Harold Halibut - Das schrulliges Adventure-Kunstwerk im Test (2024)

Ab und an gibt es sie: Spiele, denen egal ist, was ihr über sie denkt. Solche, die eigenwillig sind und sich nicht für euch verbiegen, damit ihr Spaß mit ihnen habt. Harold Halibut ist so eines. Ein ganzes Jahrzehnt lang war es bei der kleinen Indie-Schmiede Slow Bros aus Köln in der Mache, und in dieser Zeit ist das Entwicklerteam nicht von seiner Vision abgewichen. Ihr Ziel: ein Adventure mit unterschwelligem Humor im Stop-Motion-Stil entwerfen, in dem möglichst viel handgemacht ist.

Die Charaktere, jeder Gegenstand, die Räume, ja, selbst die Geräusche, alles ist mit viel Liebe und Fleißarbeit analog geschnitzt, geklebt, geknetet, genäht, geschraubt worden, bevor es per Photogrammetrie den Sprung in die Unity Engine machte. Sogar beim Soundtrack wurde mit analogen Synthesizer-Klängen gearbeitet! In Zeiten von generativer KI, die im Millisekundentakt eine Imitation nach der nächsten auskotzt, tut ein "altmodisches" Spiel wie Harold Halibut einfach nur gut! Zu jeder Zeit ist die menschliche, ehrliche Handarbeit spürbar, die keine Abkürzung genommen hat.

Mehr interaktiver Wes-Anderson-Film als Lucasarts-Adventure

Jetzt habe ich in der Einleitung die Genrebezeichnung “Adventure” verwendet, aber mittlerweile ist das ein weit gedehnter Begriff. Tatsächlich dürft ihr euch hier kein klassisches Point & Click vorstellen, wo ihr euch das Gehirn an wirren Rätseln verbiegen könnt. Davon gibt es hier so gut wie keine. Stattdessen schlägt Slow Bros eher in die Kerbe eines Life is Strange oder Dear Esther: Im Fokus steht eine sehr dialoglastige, lineare Handlung, die ab und an mit kleinen, unkomplizierten Mini-Spielen aufgelockert wird. Ihr steuert dann zum Beispiel ein Fahrzeug oder löst kleinere Aufgaben an einem Computer. Scheitern könnt ihr dabei nicht. Auf Dialoge nehmt ihr Einfluss, indem ihr Fragen oder Antworten auswählt, aber sie haben selten einen Effekt auf den Story-Verlauf. Etwas Freiheit habt ihr bei der Bewältigung von Nebenaufgaben: Diese könnt ihr bei Bedarf auch einfach ignorieren. Ihr würdet dann aber Informationen verpassen, die die liebevoll gestaltete Spielwelt weiter ausschmücken.

Den Protagonisten Harold steuert ihr per Analogstick auf dem Gamepad durch Areale, deren Zugänglichkeit von dem Storyfortschritt abhängig ist. Ihr werdet also öfter an verschlossenen Türen vorbeilaufen, die sich erst später für euch öffnen. Interaktionen mit Objekten gibt es nicht sonderlich viele. Ab und an könnt ihr einen Knopf drücken, der dann eine Maschine oder ähnliches aktiviert. Davon ab lädt das Spiel eher dazu ein, auch mal in einem Raum stehen zu bleiben und die Details aufzusaugen. Harold kommentiert also nicht alles frech wie ein Guybrush Treepwood, sondern lässt euch bewusst Impressionen in Ruhe selbst erfassen.

Das liest sich ein wenig so wie eine "Walking Sim", oder? Den Begriff mag ich nicht, aber ihr wisst sicherlich sofort, was gemeint ist: Narrative Adventures, bei denen es nicht viele klassische Spielelemente gibt, die euch herausfordern.

Eine plastische Bühne, die man anfassen möchte

Ich würde Harold Halibut am ehesten als interaktiven Film bezeichnen, denn stilistisch hat mich alles sehr an eine Mischung aus Trüberbrook und den Werken von Wes Anderson erinnert. Ich wette, die Filmfans unter euch werden relativ schnell einen Vergleich mit Die Tiefseetaucher (2004, engl.: The Life Aquatic with Steve Zissou) ziehen, weil der Einfluss im Spiel kaum zu übersehen ist. Das liegt vor allem an der Perspektive: In den meisten Fällen seht ihr das Geschehen in einer bühnenartigen Seitenansicht. Man hat hier durch den analogen Stil tatsächlich das Gefühl von plastisch wirkenden Kulissen, in die man am liebsten selbst hineingreifen würde.

Bei Gesprächen oder besonderen Ereignissen springt die Kamera aber auch deutlich näher heran und zeigt dynamische Perspektiven. Dann wird einem vor allem der immense Detailgrad bewusst. Die Installation des Spiels wiegt über 50GB, weil sehr detaillierte Texturen zum Einsatz kommen. Besonders bei den Textilen war ich baff, wie extrem realistisch und, ja, flauschig sie aussehen.

Midlife Crisis unter dem Meer

Worum geht es überhaupt? Harold ist ein wissenschaftlicher Assistent in einem Raumschiff, das vor vielen Jahrzehnten im Ozean eines fremden Planeten notgelandet ist. Damals sind die Menschen in den 70ern während des Kalten Krieges in den Weltraum geflüchtet - fest davon ausgehend, dass die Erde dem Untergang geweiht ist. Personen wie Harold sind auf Station unter Wasser geboren worden und haben nie festes Land oder gar den Himmel und die Sonne gesehen.

Die meisten Bewohner*innen haben sich mit der Situation arrangiert und man hat das Raumschiff über die Jahre zu einer kleinen Stadt umgebaut. Es gibt zum Beispiel die Arkaden, wo es Restaurants, ein Theater oder sogar eine Spielhalle gibt. Auf einer anderen Ebene findet man soziale Einrichtungen, wie etwa eine Schule. Manche haben Geschäfte eröffnet, auch wenn sie wenig Sinn ergeben. So gibt’s zum Beispiel einen Laden für Ski-Ausrüstung, dessen Besitzer seine Produkte in überschwänglichen Werbespots anpreist. Sogar einen Postboten gibt es, der so alt ist, dass er noch von seinen persönlichen Erfahrungen des Absturzes berichten kann.

So skurril manche Geschäfte und Tätigkeiten auch sein mögen, so sehr sind sie auch ein Beleg dafür, dass die Menschen durch diese Ablenkungen über all die Jahre nicht ihren Lebensmut verloren haben.

Nur der lethargische Harold fühlt sich als eine Art Hausmeister und Assistent einer Professorin eher nutzlos. Immer und immer wieder reinigt er den Filter des Raumschiffes, erledigt diverse Botengänge und ist eingeschüchtert vom Fachwissen der anderen Menschen um ihn herum. Er fühlt sich wie ein fünftes Rad am Wagen und hofft auf größere Ereignisse in seinem Leben. Die treten tatsächlich ein, und das gleich geballt: Zum einen empfängt das Raumschiff zum ersten Mal eine Nachricht von der Erde. »Wir wissen nicht so richtig, wie wir euch das sagen sollen, …« beginnt sie, »... aber wir haben es hinbekommen. Der Weltuntergang ist nicht eingetreten.« Das sorgt für viel Aufregung unter den Bewohner*innen und Harold bekommt in diesem Zuge sogar Wind von einer Verschwörung in der Führungsriege.

Als wäre das nicht genug, saugt der Filter eines Tages ein humanoid aussehendes Fischwesen ein, mit dem sich Harold anfreundet. Als es ihm anbietet, eine Reise zu seinem Zuhause zu machen, beginnt endlich das Abenteuer, auf das Harold so lange gehofft hat.

Harold Halibut - Das schrulliges Adventure-Kunstwerk im Test (1)

Die 70er haben angerufen ...

An der Beschreibung des Raumschiffes habt ihr es sicher schon bemerkt: Das Spiel ist skurril. Den Einfluss der 70er merkt man sehr stark an den Schriftarten und Schildern, ebenso wie am Kleidungsstil der Figuren. Schaut euch deutsche Filme aus dieser Zeit an, wenn ihr wissen wollt, wo sich das Team Inspiration hergeholt hat. Toll ist auch, wie die Musik aus dieser Zeit zu stammen scheint: Neben einfühlsamen Klavierklängen gibt es auch Songs, die bewusst an Pop-Songs vergangener Tage erinnern. Das Spiel nutzt das vor allem für eine gewisse allgegenwärtige Melancholie. Neben den vielen schrulligen Absurditäten gibt es ebenso viele Szenen, wo die Charaktere nachdenklich hinaus in die Unterwasserwelt starren, voll von Heimweh nach einer Welt, die vor allem die jüngere Generation nie gesehen hat. »Wo ist Zuhause?« sprayen zum Beispiel unbekannte Personen an eine Wand. Bevor Harold das Graffiti wegwischt, fragt er sich das selbst.

Will ich damit sagen, dass es manchmal sogar philosophisch zugeht? Oh ja! Mir ist es dabei leicht gefallen die Persönlichkeiten und Motivationen nachzuvollziehen. Oft habe ich mit den Charakteren gelacht. Zum Beispiel, wenn Harold die Familiengeschichte von drei bürokratieliebenden, sehr vornehmen Brüdern erforscht, die sich auf höfliche Art weigern, über ihren vierten Bruder zu sprechen - weil dieser stattdessen flapsig Grillwurst verkauft. Auch lustig ist die Aufführung des multitalentierten Schauspielers, der im Alleingang sämtliche Rollen von Theateraufführungen stemmt - vor und hinter der Bühne. Liebenswert werden solche Charaktere vor allem durch ihre absolut herausragenden englischen Sprecher*innen, denen ich jede einzelne Zeile hundertprozentig abgekauft habe. (Eine deutsche Tonspur gibt es nicht, ihr könnt aber Untertitel einschalten.)

Wie gut sie die Figuren verkörpern, ist mir in einer Szene bewusst geworden, wo Harold gemeinsam mit dem Postboten nicht ausgelieferte Post liest. Sie war an Personen adressiert, die zum Teil nicht mehr leben und geben einen Einblick in eine vergangene Zeit. In diesen Momenten zeigt sich das Spiel sehr einfühlsam, ohne kitschig zu werden

Harold Halibut - Das schrulliges Adventure-Kunstwerk im Test (2)

Ein langsamer Einstieg

Bis hierhin habt ihr sicher schon herausgelesen, dass mir Harold Halibut unheimlich gut gefällt. Kritik habe ich nur ein wenig am Pacing: In den ersten zwei bis drei Stunden hat die Handlung etwas Mühe, um in Gang zu kommen. Inhaltlich macht es durchaus Sinn, die Monotonie in Harolds Leben zu illustrieren, aber besonders wenn ihr jede Nebenaufgabe machen wollt, werden die vielen Laufwege durch die immergleichen Gänge etwas ermüdend. Da die Ebenen mit einem seltsamen Wasserröhren-System verbunden sind, die einen automatischen Ansager hat, könnt ihr nach einiger Zeit seine Sprüche nicht mehr hören. Irgendwann kriegt die Geschichte aber die Kurve und es ist mir schwer gefallen aufzuhören, zumal es ständig zu Situationen oder neuen Orten kam, die wirklich überraschend waren. Tut euch den Gefallen und schaut vorher keine Gameplay-Walkthroughs dazu an, um euch diese tollen Szenen nicht vorweg zu nehmen. Schade sind allerdings ein paar kleinere technische Makel: Manchmal glitchen Objekte durch andere hindurch, oder Animationsphasen gehen nicht fließend in andere über. Das fällt trotz der puppenartigen Bewegungen dann trotzdem ab und zu negativ auf. Während ich die Musik sehr passend und oft berührend fand, fehlt es den grafisch sehr detaillierten Kulissen an mehr Klangkulisse. Sie ist nicht immer konsistent: Manchmal könnt ihr in einem Gang jede Lampe hören, und an anderen Orten, wo sehr viel mehr los ist, hört man vergleichsweise wenig.

Harold Halibut ist in vielerlei Hinsicht ein Kunstwerk: Es hat einen eigenwilligen Humor, viel Persönlichkeit und einen skurrilen Charme, der sich nicht darum schert, ob er einem breiten Publikum gefällt oder nicht. Wenn ihr das und den analogen Stil zu schätzen wisst, werdet ihr euch an dem Spiel nicht sattsehen können. Wer aber mehr als einen interaktiven Film erwartet, wird vielleicht nicht glücklich werden, denn hier gibt es wenig Herausforderung oder Entscheidungsfreiheit. Das ist aber völlig ok. Harold Halibut ist trotz kleinerer Schwächen sehr gut in dem, was es sein möchte. Ich werde mich jedenfalls noch lange an dieses sonderbare Abenteuer zurückerinnern und bin dankbar dafür, dass die Entwickler nie den Glauben an das Projekt verloren haben - so wie die Bewohner*innen der Raumstation, obwohl sie nie das Tageslicht erblicken konnten.

Harold Halibut - Das schrulliges Adventure-Kunstwerk im Test (2024)
Top Articles
Latest Posts
Recommended Articles
Article information

Author: Aracelis Kilback

Last Updated:

Views: 6658

Rating: 4.3 / 5 (44 voted)

Reviews: 83% of readers found this page helpful

Author information

Name: Aracelis Kilback

Birthday: 1994-11-22

Address: Apt. 895 30151 Green Plain, Lake Mariela, RI 98141

Phone: +5992291857476

Job: Legal Officer

Hobby: LARPing, role-playing games, Slacklining, Reading, Inline skating, Brazilian jiu-jitsu, Dance

Introduction: My name is Aracelis Kilback, I am a nice, gentle, agreeable, joyous, attractive, combative, gifted person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.